Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 65 / 79

KEINE ANGST VOR DEM ELFENBEINTURM

aus DER SPIEGEL 19/1969

SPIEGEL: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ...

ADORNO: Mir nicht.

SPIEGEL: ... Sie sagten, Ihr Verhältnis zu den Studenten sei nicht beeinträchtigt. In Ihren Lehrveranstaltungen werde fruchtbar und sachlich ohne private Trübung diskutiert. Nun haben Sie jedoch Ihre Vorlesung abgesagt.

ADORNO: Ich habe meine Vorlesung nicht für das ganze Semester abgesagt, sondern nur bis auf weiteres in ein paar Wochen will ich sie wiederaufnehmen. Das machen alle Kollegen bei derartigen Vorlesungs-Sprengungen.

SPIEGEL: Hat man Gewalt gegen Sie angewandt?

ADORNO: Nicht physische Gewalt, aber es wurde ein solcher Lärm gemacht, daß die Vorlesung darin untergegangen wäre. Das war offensichtlich geplant.

SPIEGEL: Stößt Sie nur die Form ab, mit der die Studenten heute gegen Sie vorgehen -- Studenten, die früher zu Ihnen gehalten haben, oder stören Sie auch die politischen Ziele? Früher herrschte ja wohl Übereinstimmung zwischen Ihnen und den Rebellen.

ADORNO: Das ist nicht die Dimension, auf der sich die Differenzen abspielen. Ich habe neulich in einem Fernsehinterview gesagt, ich hätte zwar ein theoretisches Modell aufgestellt, hätte aber nicht ahnen können, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen. Dieser Satz ist unzählige Male zitiert worden, aber er bedarf sehr der Interpretation.

SPIEGEL: Wie würden Sie ihn heute interpretieren?

ADORNO: Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfindet. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. Es hat vielleicht praktische Wirkungen dadurch gehabt, daß manche Motive in das Bewußtsein übergegangen sind, aber ich habe niemals irgend etwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen abgezielt hätte. Seitdem es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen von Studenten immer wieder versucht, mich zur Solidarität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir verlangt. Das habe ich verweigert.

SPIEGEL: Aber die kritische Theorie will die Verhältnisse nicht so lassen, wie sie sind. Das haben die SDS-Studenten von Ihnen gelernt. Sie, Herr Professor, verweigern sich jetzt jedoch der Praxis. Pflegen Sie also nur eine »Liturgie der Kritik«, wie Dahrendorf behauptet hat?

ADORNO: Bei Dahrendorf waltet ein Oberton von frisch-fröhlicher Überzeugung: Wenn man nur im kleinen bessert, dann wird vielleicht auch alles besser werden. Das kann ich als Voraussetzung nicht anerkennen. Bei der Apo aber begegne ich immer dem Zwang, sich auszuliefern, mitzumachen, und dem habe ich mich seit meiner frühesten Jugend widersetzt. Und es hat sich darin bei mir nichts geändert. Ich versuche das, was ich erkenne und was ich denke, auszusprechen. Aber ich kann es nicht danach einrichten, was man damit anfangen kann und was daraus wird.

SPIEGEL: Wissenschaft im Elfenbeinturm also?

ADORNO: Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm gar keine Angst. Dieser Ausdruck hat einmal bessere Tage gesehen, als Baudelaire ihn gebraucht hat. Jedoch wenn Sie schon vom Elfenbeinturm sprechen: Ich glaube, daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft. Das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis besteht heute gerade darin, daß die Theorie einer praktischen Vorzensur unterworfen wird. Man will mir zum Beispiel verbieten, einfache Dinge auszusprechen, die den illusionären Charakter vieler politischer Zielsetzungen bestimmter Studenten zeigen.

SPIEGEL: Diese Studenten haben aber offenbar große Gefolgschaft.

ADORNO: Es gelingt immer wieder einer kleinen Gruppe, Loyalitätszwänge auszuüben, denen sich die große Mehrheit der linken Studenten nicht entziehen mag. Aber das möchte ich noch einmal sagen: Sie können sich dabei nicht auf Aktionsmodelle beru-

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Dieter Brumm und Ernst Elitz.

fen, die ich ihnen gegeben hätte, um mich dann später davon zu distanzieren. Von solchen Modellen kann keine Rede sein.

SPIEGEL: Gleichwohl ist es doch so, daß die Studenten sich manchmal sehr direkt, manchmal indirekt, auf Ihre Gesellschaftskritik berufen. Ohne Ihre Theorien wäre die studentische Protestbewegung vielleicht gar nicht entstanden.

ADORNO: Das mochte ich nicht leugnen; trotzdem ist dieser Zusammenhang für mich schwer zu übersehen. Ich würde schon glauben, daß etwa die Kritik gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, die ich auch in ihren demonstrativen Formen für völlig legitim halte, ohne das Kapitel »Kulturindustrie« in der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und mir nicht möglich gewesen wäre. Aber ich glaube, man stellt sich oft den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis zu kurzschlüssig vor. Wenn man 20 Jahre mit dieser Intensität gelehrt und publiziert hat wie ich, geht das schon in das allgemeine Bewußtsein über.

SPIEGEL: Und damit wohl auch in die Praxis?

ADORNO: Unter Umständen -- das ist aber nicht notwendig so. In unseren Arbeiten wird der Wert von sogenannten Einzelaktionen durch die Betonung der gesellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt.

SPIEGEL: Wie wollen Sie aber die gesellschaftliche Totalität ohne Einzelaktionen ändern?

ADORNO: Da bin ich überfragt. Auf die Frage »Was soll man tun« kann ich wirklich meist nur antworten »Ich weiß es nicht«. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vorgeworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man"s besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.

SPIEGEL: Sie haben doch in Ihren Arbeiten die kritische Theorie von beliebigen anderen Theorien abgesetzt. Sie soll nicht bloß empirisch die Wirklichkeit beschreiben, sondern gerade auch die richtige Einrichtung der Gesellschaft mit bedenken.

ADORNO: Hier ging es mir um die Kritik des Positivismus. Beachten Sie dabei, daß ich gesagt habe, mit bedenken. In diesem Satz steckt doch nicht, daß ich mir anmaßen würde zu sagen, wie man nun handelt.

SPIEGEL: Aber Sie haben einmal gesagt, die kritische Theorie solle »den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet«. Wenn die Studenten nun mit diesem Stein werfen -- ist das so unverständlich?

ADORNO: Unverständlich ist es sicher nicht. Ich glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Verzweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft zu verändern. Aber ich bin ebenso überzeugt davon, daß diese Einzelaktionen zum Scheitern verurteilt sind; das hat sich auch bei der Mai-Revolte in Frankreich gezeigt.

SPIEGEL: Wenn Einzelaktionen also sinnlos sind, bleibt dann nicht nur »kritische Ohnmacht«, wie sie der SDS Ihnen vorgeworfen hat?

ADORNO: Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: »Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.« Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. -- Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra« Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.

SPIEGEL: Ihr Kollege Jürgen Habermas, auch ein Verfechter kritischer Theorie, hat gerade jetzt in einem Aufsatz zugestanden, daß die Studenten »phantasiereichen Provokationismus« entfaltet haben und wirklich etwas zu ändern vermochten.

ADORNO: Darin würde ich Habermas zustimmen. Ich glaube, daß die Hochschulreform, von der wir im übrigen noch nicht wissen, wie sie ausgeht, ohne die Studenten überhaupt nicht in Gang gekommen wäre. Ich glaube, daß die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Verdummungsprozesse, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorwalten, ohne die Studentenbewegung sich niemals auskristallisiert hätte. Und ich glaube weiter -- um etwas ganz Konkretes zu nennen -, daß nur durch die von Berliner Studenten geführte Untersuchung der Ermordung Ohnesorgs diese ganze grauenhafte Geschichte überhaupt ins öffentliche

* Philosophen der »Frankfurter Schule": im Hintergrund Horkheimer, vorn v. l. Herbert Marcuse, Adorno, Habermas.

Bewußtsein gedrungen ist. Ich möchte damit sagen, daß ich mich keineswegs praktischen Konsequenzen verschließe, wenn sie mir selber durchsichtig sind.

SPIEGEL: Und wann waren sie Ihnen durchsichtig?

ADORNO: Ich habe an Kundgebungen gegen die Notstandsgesetze teilgenommen, und ich habe im Bereich der Strafrechtsreform getan, was ich tun konnte. Aber es Ist doch ein Unterschied ums Ganze, ob ich so etwas tue oder mich an einer nun wirklich schon halb wahnhaften Praxis beteilige und Steine gegen Universitätsinstitute werfe.

SPIEGEL: Woran würden Sie messen, ob eine Aktion sinnvoll ist oder nicht?

ADORNO: Einmal hängt die Entscheidung weitgehend von der konkreten Situation ab, Zum anderen habe ich allerdings gegen jede Anwendung von Gewalt die schwersten Vorbehalte. Ich müßte mein ganzes Leben verleugnen -- die Erfahrungen unter Hitler und was ich am Stalinismus beobachtet habe -, wenn ich dem ewigen Zirkel der Anwendung von Gewalt gegen Gewalt mich nicht verweigern würde, Ich kann mir eine sinnvolle verändernde Praxis nur als gewaltlose Praxis vorstellen.

SPIEGEL: Auch unter einer faschistischen Diktatur?

ADORNO: Sicher wird es Situationen geben, in denen das anders aussieht. Auf einen wirklichen Faschismus kann man nur mit Gewalt reagieren. Da bin ich alles andere als starr. Wer jedoch nach der Ermordung ungezählter Millionen von Menschen in den totalitären Staaten heute noch Gewalt predigt, dem versage ich die Gefolgschaft. Das ist die entscheidende Schwelle.

SPIEGEL: Ist diese Schwelle überschritten worden, als Studenten versuchten, durch Sitzstreiks die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern?

ADORNO: Diesen Sitzstreik halte ich für legitim.

SPIEGEL: Wurde diese Schwelle überschritten, als Studenten Ihre Vorlesung durch Lärm und Sex-Einlagen störten?

ADORNO: Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert.

SPIEGEL: Sollte der ungewöhnliche Akt vielleicht Ihre Theorie verwirren?

ADORNO: Mir scheint, daß es bei diesen Aktionen gegen mich weniger um den Inhalt meiner Vorlesung geht; wichtiger ist dem extremen Flügel wohl die Publizität. Er leidet unter der Angst, in Vergessenheit zu geraten. So wird er zum Sklaven seiner eigenen Publizität. Eine Vorlesung wie die meine, die von etwa 1000 Leuten besucht wird, ist selbstverständlich ein herrliches Forum für Propaganda der Tat.

SPIEGEL: Läßt sich nicht auch diese Tat als Aktion der Verzweiflung deuten? Vielleicht fühlten sich die Studenten im Stich gelassen von einer Theorie, der sie zumindest zutrauten, sie ließe sich in gesellschaftsändernde Praxis umsetzen?

ADORNO: Die Studenten haben gar nicht versucht, mit mir zu diskutieren. Was mir den Umgang mit den Studenten heute so erschwert, ist der Vorrang der Taktik. Meine Freunde und ich haben das Gefühl, daß wir nur noch Objekte in genau kalkulierten Plänen sind. Der Gedanke an das Recht von Minderheiten, der ja schließlich für die Freiheit konstitutiv ist, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Gegen die Objektivität der Sache macht man sich blind.

SPIEGEL: Und angesichts solcher Nötigungen verzichten Sie auf eine Verteidigungs-Strategie?

ADORNO: Mein Interesse wendet sich zunehmend der philosophischen Theorie zu. Wenn ich praktische Ratschläge gäbe, wie es bis zu einem gewissen Grad Herbert Marcuse getan hat, ginge das an meiner Produktivität ab. Man kann gegen die Arbeitsteilung sehr viel sagen, aber bereits Marx, der sie in seiner Jugend aufs heftigste angegriffen hat, erklärte bekanntlich später, daß es ohne Arbeitsteilung auch nicht ginge.

SPIEGEL: Sie haben sich also für den theoretischen Teil entschieden, die anderen können den praktischen erledigen; sie sind bereits dabei. Wäre es nicht besser, wenn die Theorie gleichzeitig die Praxis reflektieren würde? Und damit auch die gegenwärtigen Aktionen?

ADORNO: Es gibt Situationen, in denen ich das täte. Im Augenblick allerdings scheint mir viel wichtiger, erst einmal die Anatomie des Aktionismus zu bedenken.

SPIEGEL: Also wieder nur Theorie? ADORNO: Ich räume der Theorie zur Zeit höheren Rang ein. Ich habe -- vor allem in der »Negativen Dialektik« -- diese Dinge längst angefaßt, ehe es zu diesem Konflikt kam.

SPIEGEL: In der »Negativen Dialektik« finden wir die resignierte Feststellung: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« Wird eine solche Philosophie -- jenseits aller Konflikte -- nicht zur »Narretei«? Eine Frage, die Sie selbst sich gestellt haben.

ADORNO: Ich glaube nach wie vor, daß man gerade unter dem allgemeinen Praxiszwang einer funktionalen pragmatisierten Welt an der Theorie festhalten sollte. Und ich lasse mich auch durch die jüngsten Ereignisse nicht von dem abbringen, was ich geschrieben habe.

SPIEGEL: Bisher, so formulierte einmal Ihr Freund Habermas, hat sich Ihre Dialektik an den »schwärzesten Stellen« der Resignation, dem »destruktiven Sog des Todestriebes«, überlassen.

ADORNO: Ich würde eher sagen, daß der krampfhafte Hang zum Positiven aus dem Todestrieb kommt.

SPIEGEL: Dann wäre es die Tugend der Philosophie, dem Negativen ins Auge zu sehen, aber nicht, es zu wenden?

ADORNO: Die Philosophie kann von sich aus keine unmittelbaren Maßnahmen oder Änderungen empfehlen. Sie ändert gerade, indem sie Theorie bleibt. Ich meine, man sollte doch einmal die Frage stellen, ob es nicht auch eine Form des Sich-Widersetzens ist, wenn ein Mensch die Dinge denkt und schreibt, wie ich sie schreibe. Ist denn nicht Theorie auch eine genuine Gestalt der Praxis?

SPIEGEL: Gibt es nicht Situationen. wie zum Beispiel in Griechenland, in denen Sie, über kritische Reflexion hinaus, Aktionen befürworten würden?

ADORNO: In Griechenland würde ich selbstverständlich jede Art von Aktion billigen. Dort herrscht eine total andere Situation. Doch aus dem sicheren Hort zu raten, macht ihr mal Revolution, hat etwas so Läppisches, daß man sich genieren muß.

SPIEGEL: Sie sehen also die sinnvollste und notwendigste Form Ihrer Tätigkeit in der Bundesrepublik nach wie vor darin, die Analyse der Gesellschaftsverhältnisse voranzutreiben?

ADORNO: Ja, und mich in ganz bestimmte Einzelphänomene zu versenken. Ich geniere mich gar nicht, in aller Öffentlichkeit zu sagen, daß ich an einem großen ästhetischen Buch arbeite.

SPIEGEL: Herr Professor Adorno, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Ausgabe
Artikel 65 / 79